Donnerstag, 15.07.2021

Kindheit und Jugend in der Coronavirus-Pandemie

Die Situation der Kinder und Jugendlichen in der Pandemie ist bisher viel zu wenig beachtet worden. Dies gilt sowohl für politische als auch gesamtgesellschaftliche Analysen und Maßnahmen, die erhebliche Auswirkungen auf diese Altersgruppe haben. Für eine fundierte Darstellung werden die direkten biomedizinischen und die indirekten, z.B. (entwicklungs-)psychologischen, sozialen, Bildungs- und kulturellen Folgen gesondert betrachtet.

Zu Ersteren lässt sich in Kürze sagen: Kinder und Jugendliche können sich mit SARS-CoV-2 infizieren, dann asymptomatisch bleiben oder daran erkranken, aber meist nur mit geringen Symptomen. Selbst im Neugeborenen- und Säuglingsalter ist dies dokumentiert. Bei Kindern mit bestimmten Grunderkrankungen kann es wie im Erwachsenenalter zu schweren, auch lebensbedrohlichen Verläufen kommen, jedoch betrifft dies nur eine absolute Minderheit. Sehr selten kommt es zu einer gefährlichen Immunreaktion nach Infektion, die als PIMS (Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome) oder MIS-C (Multisystem Inflammatory Syndrome in Children) bekannt geworden, aber behandelbar ist. Extrem selten treten Todesfälle im Kindesalter auf, bis jetzt (Stand 29.06.2021) sind in Deutschland seit Beginn der Pandemie 23 Fälle bei Personen < 20 Jahren gesichert. Zum Vergleich: jedes Jahr versterben in Deutschland etwa 2500 Kinder allein im 1. Lebensjahr, meist aufgrund von Frühgeburtlichkeit oder angeborenen schweren Erkrankungen.

Insgesamt stellen Kinder und Jugendliche immer noch einen geringeren Anteil an der Gesamtzahl der bekannten Infektionen, als es ihrem Bevölkerungsanteil entsprechen würde. Dennoch können Kinder und insbesondere Jugendliche natürlich andere Menschen anstecken, wenngleich die meisten Daten darauf hinweisen, dass sich die Jungen bei den Älteren anstecken. Mitnichten sind sie die Treiber der Pandemie, auch wenn dies in der Öffentlichkeit häufig so dargestellt wird. Vielmehr leiden sie genauso wie alle anderen Bürger an den biomedizinischen Folgen dieser Infektionskrankheit. Dies allein ist schon Grund genug, rasch Impfstoffe auch für diese Altersgruppe bereitzustellen, um sie vor weiteren Krankheitsfolgen wirksam schützen zu können.

Die Analyse der indirekten Pandemiefolgen für Kinder und Jugendliche gestaltet sich ungleich schwieriger. Dennoch lässt sich eindeutig feststellen, dass Kinder und Jugendliche, im Übrigen ebenso die Familien, übermäßig unter den indirekten Folgen der Pandemie und der ergriffenen Kontrollmaßnahmen leiden und dies viel zu wenig von der allgemeinen und politischen Öffentlichkeit anerkannt und berücksichtigt wird.

Aus der Entwicklungspsychologie kommen erste Hinweise, dass bereits die frühkindliche Entwicklung Veränderungen zeigt. Säuglinge, die während der Pandemie geboren worden sind, entwickeln teils auffällige Interaktionsmuster mit ihrer Umwelt. Dies wird u.a. auf mangelnden Kontakt außerhalb der Kernfamilie und auf die Belastung der Eltern zurückgeführt, aber auch auf das Tragen von Masken und die damit veränderte Gesichtserkennung im frühen Säuglingsalter.

Im weiteren Verlauf der Kindheit und Jugend kommt es dazu, dass Ängste, Depression, Zurückgezogenheit und Zukunftssorgen durch die mangelnden Kontakte mit Gleichaltrigen und Freunden sowie geringen Entfaltungsmöglichkeiten, beispielsweise bei Sport und Musik, zunehmen. Häufigere Suizidgedanken und vermehrte Gewalt gegen andere spiegeln dann nur die zwei Seiten der gleichen Problematik wieder. Die vermehrte Nutzung virtueller Medien ist dabei nicht hilfreich, sondern verschärft die Lage zusätzlich. Die Datenlage zeigt immer deutlicher, dass die Kinder und Jugendlichen zunehmend kinder- und jugendpsychiatrischer Beratung und Therapie bedürfen. Fast ein Drittel aller Kinder leidet ein Jahr nach Beginn der Pandemie unter psychischen Auffälligkeiten. Dies entspricht einem Anstieg um 50% gegenüber der Situation vor der Pandemie. Selbst die neuesten Daten zu gestiegener innerfamiliärer, psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt scheinen jedoch kein Umdenken in Politik und Gesellschaft zu bewirken.

Besonders betroffen sind Kinder und Familien aus sozial schwierigen Verhältnissen. Schon vor der Pandemie waren sie deutlich stärker belastet als z.B. Kinder und Jugendliche aus bildungsnahen Bevölkerungsanteilen. Eigene Ressourcen und die der Familien reichen nun erst recht nicht mehr aus, um der zusätzlichen Belastung standzuhalten. Dies ist ein prognostisch alarmierender Befund, da sich abzeichnet, dass eine ganze Generation von jungen Menschen verloren zu gehen droht. Überlastete Familien, hier insbesondere die Frauen, können diese Entwicklung nicht mehr abfangen und geraten selbst in Krisensituationen.

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Bis heute haben weder die überwiegende Mehrheit der politischen Akteure noch der Bevölkerung verstanden, dass Bildung ein Grundrecht ist, das wir unseren Kindern und Jugendlichen schulden. Bildung wird zudem noch viel zu häufig und einseitig mit dem Erwerb von Wissen und Fertigkeiten gleichgesetzt. Folglich erscheinen (digitaler) Fernunterricht und andere Modelle als ein probates Mittel, um die Kita- und Schulschließungen zu rechtfertigen und den Betreuungs-/Unterrichtsausfall zu kompensieren. Bildungswissenschaftler und Lehrkräfte sind jedoch alarmiert, welche Wissens- und Entwicklungslücken mittlerweile viele Kleinkinder und Schüler aufweisen, die wohl nicht mehr aufzuholen sein werden. Laut Angaben der Landesjugendämter verdoppelt sich die Zahl der Schulabbrecher auf 210000 im Jahr 2020 und 2021. Ähnliche Überlegungen gelten für Studierende und Auszubildende, die in der gegenwärtigen politischen Debatte im Prinzip gar nicht vorkommen.

Bildung umfasst jedoch viel mehr als nur die Vermittlung von Wissen. Wilhelm von Humboldt, Urvater der modernen Auffassung von Bildung, definierte bereits Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts Bildung als „die Anregung aller Kräfte des Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit führen“. Nach diesem Humboldt’schen Bildungsideal ist Bildung also mehr als die reine Aneignung von Wissen: es ist ein fortlaufender, relationaler Prozess der Individualisierung und Persönlichkeitsentwicklung im Austausch mit Gesellschaft und Umwelt. Alleinige Betreuung im Kleinkind- und Schulalter zuhause entspricht dieser Forderung nicht im Entferntesten.

Zur gesunden Entwicklung eines Menschen gehört auch die Möglichkeit, kulturelle Angebote allein und in Gemeinschaft wahrzunehmen bzw. anzubieten. Dabei erstreckt sich der Begriff der „Kultur“ auf vielfältige Bereiche: z.B. Kunst, Musik, Sport, Umwelt, Natur. Diese Möglichkeiten sind jedoch zurzeit drastisch beschnitten, ohne dass belegt werden kann, dass dadurch das Pandemiegeschehen eingedämmt wird.

Es ist hinlänglich bekannt, dass Erwachsene mit schlechter (Aus-)Bildung und prekärer Sozialisation im Laufe ihres Lebens überproportional häufig im Erwerbsleben weniger erfolgreich sind. Armut und Bildungsferne sind jedoch Hochrisikofaktoren für die frühzeitige Entstehung von chronischen Krankheiten, u.a. auch Demenz, und gehen mit einer verkürzten Lebenserwartung einher. Umso tragischer ist es, dass (gesellschafts-)politische Diskussionen und Entscheidungen gerade in der Pandemie meist nur die kurzfristige Gegenwart im Blick haben und Maßnahmen wie Kita-/Schulschließungen, Bildungsstopp und die Untersagung von kulturellen Angeboten verschiedenster Art nicht unter langfristigen Gesichtspunkten evaluiert werden.

Während sich die indirekten Folgen der Pandemie in Ländern wie Deutschland meist auf die psycho-sozio-ökonomisch-kulturell-wirtschaftliche Situation auswirken, bedeutet die derzeitige Vorgehensweise der Industrienationen für die ärmeren Länder des Südens, dass Abermillionen Kinder und Erwachsene durch den Verlust von Bildung und Einkommen verarmen, hungern und letztlich sterben werden. Seriöse Schätzungen beziffern die Zahl der Todesfälle allein im Kleinkindalter auf über 1 Million zusätzliche Tote pro Jahr.

Welche Alternativen zur derzeitigen Vorgehensweise sind nun denkbar? Hier können nur einige Prinzipien genannt werden.

Kinder und ihre Familien müssen in das Zentrum der Pandemieeindämmung gestellt werden; dahinter müssen andere Bereiche ggf. zurücktreten. Kitas, Schulen, Ausbildungsstätten und Hochschulen müssen verlässlich und dauerhaft geöffnet bleiben. Dies kann z.B. dadurch unterstützt werden, dass sich ErzieherInnen, LehrerInnen und DozentInnen bevorzugt impfen lassen. Die Einhaltung von Abstandsregeln und das Tragen von Masken werden dabei nur älteren Kindern und Jugendlichen möglich sein, ebenso natürlich den Lehrkräften an Schulen und weiterführenden Bildungseinrichtungen. Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche müssen ebenso geöffnet bleiben, besonders mit einem Schwerpunkt auf Aktivitäten im Freien (Spielplätze, Freibäder, Sportanlagen). Bei diesen Aktivitäten sind nachweislich kaum Infektionen zu erwarten. Auch müssen sich Kinder und Jugendliche in Kleingruppen dauerhaft wieder im Freundeskreis treffen können.

Ferner ist es dringend geboten, Impfungen in allen Altersgruppen durchzuführen; alle Erwachsenen sollten dazu mit gutem Beispiel voran gehen. Impfungen sind nach derzeitigem Wissensstand die einzige langfristige Möglichkeit, die Pandemie in ausreichendem Maße einzudämmen und den Weg in ein für Kinder und Jugendliche einigermaßen normales Leben zu ermöglichen.