Donnerstag, 10.06.2021

Sollen alle Kinder und Jugendlichen ab 12 Jahren gegen SARS-CoV-2 geimpft werden?

Bereits vor, aber besonders seit der Zulassung des mRNA-Impfstoffes Comirnaty der Firmen BioNTech/Pfizer für alle Kinder und Jugendlichen ab 12 Jahren Ende Mai 2021 durch die Europäische Arzneimittelbehörde EMA diskutieren in Deutschland Politik und Gesellschaft ausführlich und teils sehr emotional die Vor- und Nachteile sowie die Gründe für und gegen eine Impfung in der Altersgruppe von 12-17 Jahren.

Die Ständige Impfkommission (STIKO) am Robert-Koch-Institut (RKI) hat bisher, anders als die EMA, nur eine Empfehlung für bestimmte Risikogruppen bei Kindern und Jugendlichen von 12-17 Jahren ausgesprochen (Stand 10.06.2021; www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2021/Ausgaben/23_21.pdf.

Diese Diskrepanz in den Empfehlungen zweier bedeutender wissenschaftlicher Institutionen innerhalb der EU sorgt für eine ausgeprägte Verunsicherung bei Eltern und ihren Kindern, aber auch in der Ärzteschaft. Die Äußerungen aus verschiedenen politischen Lagern tragen dabei nicht zur Versachlichung der Diskussion bei.

Die EMA sieht in der der Zulassung zugrunde liegenden Studie (N Engl J Med 2021; NEJMoa2107456) ausreichend belegte wissenschaftliche Hinweise für eine sehr gute Wirksamkeit des Impfstoffes in dieser Altersgruppe mit akzeptablem Nebenwirkungsprofil, so dass die Nutzen-Risiko-Abwägung positiv ausfällt. Die STIKO interpretiert die gleiche Studie etwas anders und verweist darauf, dass nur knapp über 1100 Kinder und Jugendliche in der Studie den Impfstoff erhalten haben. Damit kann nach Ansicht der STIKO keine sichere Aussage zu möglichen seltenen, ernsthaften Nebenwirkungen getroffen werden: hier werden als Beispiele das Auftreten von in der Regel milde verlaufenden, vorübergehenden Herzmuskelentzündungen besonders bei männlichen Jugendlichen und Adoleszenten (Häufigkeit 1:15.000-18.000), die auch bei Älteren bekannte Thrombosegefahr und potenzielle, nicht näher spezifizierte, noch unbekannte ernste Nebenwirkungen angeführt.

Die STIKO wägt bei ihrer Argumentation somit zwei andere Aspekte gegeneinander ab als die EMA: die potenziellen, bisher nicht ausreichend definierbaren Impfrisiken und das sehr geringe Risiko schwerer Erkrankungen oder Todesfälle durch die SARS-CoV-2-Infektion. Die STIKO stützt sich dabei auf die von RKI und pädiatrischen Fachgesellschaften publizierte Datenlage, dass nur etwa 1% aller Kinder unter 18 Jahren wegen einer COVID-19-Erkrankung im Krankenhaus behandelt werden müssen und zumindest in Deutschland das Sterberisiko bei unter 1:100.000 liegt. Auch die Häufigkeit und Bedeutung des Post-COVID-Syndroms oder der nach der Infektion immunvermittelt auftretenden Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome (PIMS)-Erkrankung wird als eher gering eingestuft. Damit wird das Nutzen-Risiko-Profil im Hinblick auf eine generelle Impfung in dieser Altersgruppe negativ bewertet und nur für Risikogruppen empfohlen.

Die STIKO stellt den Grad des Eigennutzens der Impfung für die Kinder und Jugendlichen, der nach der derzeitigen Datenlage als gering einzuschätzen wäre, ausdrücklich in den Vordergrund. Die STIKO führt ferner aus, dass erst einmal weitere Daten zu Wirkung und Nebenwirkungen aus anderen Ländern, die wie die USA und Israel Impfungen in dieser Altersgruppe in großem Maßstab durchführen, abgewartet werden sollten, und behält sich für die Zukunft eine Neubewertung je nach Datenlage vor.

Nun kann man sich der Sichtweise der STIKO natürlich anschließen und in der ärztlichen Praxis und bei familiären Entscheidungen danach handeln, aber es gibt auch gute Gründe, eine andere Bewertung und Sichtweise zu vertreten. Bei der Abwägung der Krankheitsrisiken berücksichtigt die STIKO nur unzureichend die erheblichen negativen psychosozialen, entwicklungspsychologischen und Bildungsfolgen, die die pandemiebedingten Einschränkungen mit sich bringen: hier sind die Konsequenzen der Kita- und Schulschließungen zu nennen, ebenso die Auswirkungen von Quarantäne- und Lockdown-Maßnahmen in dieser Altersgruppe. Ängste, Depression, Zurückgezogenheit, Zukunftssorgen, häufigere Suizidgedanken und vermehrte Gewalt gegen andere nehmen zu, besonders bei Kindern und Familien aus sozial schwierigen Verhältnissen. Die vermehrte Nutzung virtueller Medien ist dabei nicht hilfreich, sondern verschärft die Lage zusätzlich. Die Datenlage zeigt immer deutlicher, dass die Kinder und Jugendlichen zunehmend kinder- und jugendpsychiatrischer Beratung und Therapie bedürfen. Fast ein Drittel aller Kinder leidet ein Jahr nach Beginn der Pandemie unter psychischen Auffälligkeiten. Dies entspricht einem Anstieg um 50% gegenüber der Situation vor der Pandemie (COPSY-Studie 2020/2021).

Diese Befunde sollten in die Abwägung von Nutzen und Risiko der Impfung unbedingt mit einfließen und wiegen in der Summe sicher erheblich schwerer als die alleinige Berücksichtigung der unmittelbaren Morbidität und Mortalität der Erkrankung. Leider spiegelt sich in der Haltung der STIKO die fortschreitende Sichtweise einer ‘postmodernen‘ Gesellschaft auf Gesundheit und Krankheit wider: die reinen biomedizinischen Aspekte von Krankheit und Gesundheit werden deutlich höher gewichtet als die psychosozialen Komponenten. Damit verabschiedet sich die Gesellschaft schrittweise von dem über die letzten Jahrzehnte mühsam erarbeiteten bio-psycho-sozialen Konzept von Gesundheit und Krankheit.

Auch dass die STIKO den eigenen Schutz durch die Impfung so stark gegenüber dem Fremdnutzen (Beitrag zur Herdenimmunität) bei ihrer Empfehlung gewichtet, ist befremdlich und nur bedingt nachvollziehbar. Bei früheren Impfempfehlungen stand dieser Aspekt kaum im Vordergrund. Als Beispiel sei auf die Argumentation bei der Einführung der generellen Säuglingsimpfung gegen Hepatitis B oder Röteln verwiesen. Damals war es für die STIKO und die medizinische Fachwelt selbstverständlich, dass nur durch die Impfung im Säuglingsalter eine ausreichend hohe Impfrate in der Bevölkerung zu erreichen ist, um die Hepatitis B-Infektionszahlen bei Erwachsenen und das Risiko einer Rötelnerkrankung in der Schwangerschaft entscheidend zu reduzieren. Der Eigennutzen für die Säuglinge stand damals nicht zur Diskussion, da er in dieser Altersgruppe kaum existiert (siehe z.B. Dtsch Arztebl 1996; 93: A-3122-3126).

Warum erachtet die STIKO heutzutage den Fremdnutzen der Impfung – diesen kann man auch mit der ethischen „Pflicht zur einfachen Rettung“ vergleichen – als nachrangig und damit ethisch und medizinisch nicht legitimierbar? Der Grundgedanke des Impfens gegen von Mensch zu Mensch übertragbare Erkrankungen ist, dass nicht durch die natürliche Infektion mit ihren potenziellen Risiken eine Herdenimmunität erreicht wird, sondern dies frühzeitig durch eine risikoärmere Impfung geschieht und somit vulnerable Bevölkerungsgruppen geschützt werden. Nach derzeitigem Stand müssten in Deutschland auch die Kinder und Jugendlichen geimpft werden, um bei der jetzt dominierenden Delta-Variante nur annähernd eine populationsbezogene Immunität von 85-90% aufbauen und damit die Ausbreitung der SARS-CoV-2-Infektion weitgehend stoppen zu können. Nur wenn sich alle Erwachsenen ab 18 Jahren impfen ließen, könnte man nach derzeitigem Kenntnisstand unter Berücksichtigung der Menschen mit überstandener Erkrankung die Herdenimmunität ohne die Kinder und Jugendlichen erreichen.

Vermutlich unbewusst liefert die STIKO mit ihrer Stellungnahme Argumente für die libertäre Position von Impfskeptikern/-gegnern, die in unserer ‘postmodernen‘ Gesellschaft immer mehr um sich greift. Das Primat der Autonomie des Einzelnen steht über allem: eine libertäre Haltung postuliert, dass man nur sich selbst gegenüber verantwortlich ist und sonst niemandem, auch nicht den Mitmenschen und schon gar nicht dem Staat gegenüber, eine Pflicht oder ein bestimmtes Verhalten schuldet, selbst wenn durch dieses Handeln oder Unterlassen (hier keine Impfung) eine Gefahr für andere entsteht.

Indem die STIKO potenzielle, aber nicht näher zu spezifizierende Impfrisiken als ein weiteres wichtiges Argument gegen eine generelle Impfempfehlung in den Vordergrund stellt, unterstützt sie dadurch unbewusst die Ansichten der Impfskeptiker/-gegner zur vermeintlichen Gefährlichkeit/Nutzlosigkeit von Impfungen. Der Verweis der STIKO, dass erst einmal Erfahrungen aus anderen Ländern mit der Impfung von Kindern und Jugendlichen gesammelt werden sollen, bevor hier in Deutschland eine generelle Empfehlung für eine Impfung von Personen unter 18 Jahren ausgesprochen werden sollte, ist zudem ethisch fragwürdig, da dadurch u.a. ein grundlegendes moralisches Prinzip missachtet wird: der kategorische Imperativ nach Immanuel Kant in der Form der Zweckformel besagt, dass man seine Mitmenschen niemals nur als Mittel (für ein eigenes Ziel) nutzen darf. Genau dies geschieht aber, wenn die STIKO die „gesunden“ Kinder und Jugendlichen in Deutschland nicht potenziellen Risiken aussetzen will und diese potenzielle Gefahr aber anderen im Ausland (und mit ihrer Empfehlung zudem in Deutschland den Kindern mit bestimmten Vorerkrankungen) zumutet.

In der Summe könnte die Argumentationsweise der STIKO der generellen Idee des Impfgedankens schaden. Die STIKO wird als ein wichtiger öffentlicher Meinungsbildner wahrgenommen. Bei widersprüchlichen Aussagen derartiger Institutionen zu Impfungen können sich rasch unerwünschte Effekte in der Allgemeinbevölkerung einstellen, die den Impferfolg weiter beeinträchtigen. Dies konnten umfassende Analysen der ‘WHO-SAGE Working Group on Vaccine Hesitancy‘ in den letzten Jahren zeigen.

Mit der jetzigen Haltung kann die STIKO zudem den derzeitigen Überlegungen mancher politischen Entscheidungsträger, bei Anstieg der Infektionsrate und fehlender Impfung bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Kitas, Schulen und Hochschulen im Herbst entweder nur im Wechselunterricht zu öffnen oder sogar wieder komplett zu schließen, nichts entgegensetzen. Der Gedanke, dass Kinder und Jugendliche die Pandemietreiber seien, ist in den Köpfen vieler politisch Verantwortlicher immer noch präsent, auch wenn aktuelle Studien, z.B. jüngst aus Mainz, diese Ansicht erneut widerlegt haben! Dass diese Schritte nicht eingeleitet werden dürften, selbst wenn Kinder und Jugendliche nicht geimpft sind, ist nach den bisherigen Erfahrungen in der Pandemie ein sehr optimistischer Wunsch. Die Gesellschaft sollte mittlerweile realisiert haben, wie wenig auf die Belange der Kinder und ihrer Familien derzeit Rücksicht genommen wird!

Erheblich stringenter wäre es daher gewesen, wenn sich die STIKO, so wie die EMA, eindeutig für eine generelle Impfung auch im Kindesalter (gemäß der derzeitigen Studienlage ab 12 Jahren) ausgesprochen und darauf hingewiesen hätte, dass sich selbstverständlich zuerst alle Erwachsenen und besonders die Risikogruppen im Erwachsenen- und Kindesalter bei Impfstoffmangel, der in naher Zukunft jedoch überwunden sein wird, impfen lassen müssten. Dies hätte Kinderärztinnen und Kinderärzten und allen weiteren Impfeinrichtungen viele Diskussionen mit verunsicherten Eltern und Jugendlichen erspart und hätte den Impfgedanken generell deutlich stärker gefördert als die Diskussion, die derzeit in dieser Frage geführt wird.